Es ist mir egal, aber

Ich erinnere mich an Sven und daran, wie wir gemeinsam von der Schule nach Hause liefen und er mir Tocotronic zeigte und ich zum ersten Mal “Es ist mir egal, aber” hörte; wie verstanden ich mich fühlte. Uns kamen drei wunderhübsche Mädchen entgegen und Sven rief ihnen etwas zu und ich dachte: Bitte Sven, mach das nicht. Eine von ihnen, sie sollte Julia heißen und mit ihren blonden Haaren, strahlend wie die Sonne in Dänemark, machte sie mir klar, wie jämmerlich ich im Gegensatz zu ihr aussehen musste. In meinen abgelatschten Skaterschuhen, durchgewetzten Jeans und dieser trotzigen halblang-ohne-Schnitt-Frisur. Und dazu noch mein Gesicht mit dem Blick eines Feuermelders – immer zum reinschlagen – und der unreinen Haut.  Ich schämte mich, vor ihr zu stehen und sie anzusehen, so als wäre sie ein Fabergé-Ei, auch wenn ich damals nichts von Kunst verstand, woran sich bis heute nicht viel geändert hat.

Ich sollte sie nie vergessen und ihre wunderschönen Zähne. Ich erzählte jedem von ihr. Ich hatte Freunde, die zwar größtenteils ungefickt, aber dennoch dumm genug waren zu glauben, alle Frauen als Schlampen bezeichnen zu müssen und ebendiese Freunde waren es, die meine Schwämerei Tag um Tag ertragen mussten. Immer dann, wenn ich nicht mehr an sie dachte, sah ich sie. Ich sah sie bei ihrer Mutter im Auto sitzend an mir vorbeifahren. Ich sah sie in der Disko. Ich sah sie immer und immer wieder. Und immer dann spürte ich mein Herz und hörte das Reißen, so wie es klingt, wenn man ein Stück rohes Fleisch mit den Händen zerfetzt. Immer war mir klar, dass ich einfach zu erbärmlich aussehen musste, um auch nur ein Wort mit ihr reden zu können, ohne von ihr ausgelacht zu werden.

Es dauerte eine Weile und Sven rang mir das Versprechen ab, dass ich niemals jemandem sagen würde, dass er mir ihre Nummer gab. “Auch nicht, wenn deine Familie als Geisel genommen wird.” Auch dann nicht, Sven, versprochen.

Ich denke an Michael, der mein bester Freund war, und sich den größten Teil von meinem Geschnurre anhören musste, und wie er mir sein Handy lieh, weil ich Mobilfunk damals konsequent ablehnte. Es war Freitag und ein paar Freundinnen waren bei ihr zu Hause und weil ich glaubte, dass Erwachsene so etwas machen, lud ich sie auf einen Kaffee ein. Kaffee trinke ich nicht. Dann Cappuccino. Es waren die längsten 20 Sekunden meines Lebens, während sie sich mit ihren Freundinnen beriet. “Markus, wir sehen uns bestimmt auf der Party im Februar.” Es war Dezember und in mir drin war Dezember vor 5 Millionen Jahren. Ich spürte den Regen und nur ich spürte ihn.

“Lass es sein, Markus”, sagte Michael, “das wird nichts”.

Noch nicht.

Ich erinnere mich an die Laderampe, auf der wir lagen. Total betrunken. Wir verbrachten den gesamten Sommer zusammen und an diesem Oktoberabend, also zwei Jahre nachdem ich sie zum ersten Mal sah; zehn Monate nach der Abfuhr am Telefon, spürte ich, neben ihr liegend, ihren Atem auf meiner Haut und dann die größte Explosion an menschlichen Gefühlen, die mein Körper jemals in der Lage war, zu produzieren. Wir küssten uns und ich kann mich nicht daran erinnern, jemals wieder so etwas bei einem Kuss gespürt zu haben.

Monate inoffizieller nächtlicher Dates auf ihrem Wohnzimmerfußboden im Erdgeschoss ihres Hauses, gefolgt von offiziellen Dates in ihrem Zimmer, die regelmäßig mit dem Rapport ihres Bruders heimgezahlt wurden, der es sich nicht nehmen ließ, die Frage der Mutter, ob ich über Nacht blieb, mit “Wenn er nicht ohne Schuhe gegangen ist, dann ja.” zu beantworten.

Ich war 18 Jahre alt und es war das Jahr meines Lebens.

Ich erinnere mich an die vielen Menschen, die zu der Zeit gestorben sind und ich erinnre mich an den Schmerz des Verlustes und den Versuch, das Ausbleiben der Menschen in meinem Leben zu akzeptieren. Eine Zeit, in der ich den Entschluss fasste, mich keinem Menschen antun zu wollen, zu schwach zu sein für Tod und Krankheit; Liebe nicht ertragen zu können.

Die Trennung von Julia gipfelte in einem letzten gestellten Orgasmus meinerseits. Ich sehe ihre Ohrfeigen noch heute auf mich einprasseln und ich erinnere mich an den Genuss, etwas richtig zu spüren. Die Welt war weit weg von mir, doch ihre auf mich einschlagenden Hände konnte ich spüren. Ich sah sie weinen, aber fühlte nichts. Ich war zu voll mit Angst.

Irgendwann kam sie nicht mehr vor meine Tür, um mich anzuflehen, bei ihr zu bleiben, mir zu sagen, wie sehr es ihr schmerzt und genau in dem Moment, bevor ich an diesem Abend einschlief, dachte ich bei mir: Nun bist du verloren.

Es ist einfach über den Augenblick nachzudenken, in dem man beschloss, sich gegen die Türen zu entscheiden, die einem doch von Tanten und Großmüttern als weit offen beschrieben wurden. Gegen die Möglichkeiten, die man doch alle hatte. Das ist einfach. Genauso einfach wie zu bereuen.

Ich denke an Julia, jetzt gerade. Ich weiß, dass es ihr gut geht. Sie hat sich für die richtigen Möglichkeiten entschieden und wohnt nun mit ihrem – und da bin ich ganz sicher – wundervollen Freund in einer großen Stadt, wo sie zur großen Frau wird. Eigentlich sollte ich an etwas schreiben, dass etwas Wichtiges werden soll, aber ich denke an sie. Ich sitze in der SLUB, höre Violent Skies von Apparat, schaue mich um und sehe die Leute und wie sie ihre Bücher wälzen.

Ich werde den Rechner zuklappen, die Treppen nach oben steigen und dann kuschelnd in der 61 stehen. Ich werde meine Tage leben. Es wird sich nichts ändern. Ich werde ihr das nicht sagen, keine Voicemail versenden; nur werde ich an sie denken, und daran, dass ich besser bei ihr geblieben wäre.

8 Gedanken zu “Es ist mir egal, aber”

  1. So herrlich ehrlich und gefühlvoll!
    Da du keine Nachrichten o.ä. magst, würde ich dir das ja gerne am Telefon sagen, aber schade, keine Nummer ;/

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  2. Auch wenn du immer noch an sie denkst… Auch wenn du es bis jetzt bereust, sie gehen gelassen zu haben… Auch wenn ich eine Fremde im anonymen Internet bin… Meine Meinung ist, dass man selber erstmal (mit sich selbst) zufrieden sein muss, um andere zufrieden zu machen. Da dies nicht der Fall war, hätte wohl jeder andere genauso in deiner Situation gehandelt.

    Fast jeder hat ja so einen besagten Menschen, der immer in unseren Erinnerungen eine Rolle spielt. Ich denke aber, dass manchmal die Erinnerungen schöner sind, als die Realität. Oder aber auch, dass man sich nur an die schönen Dinge erinnern will. So eine vermeintlich perfekte Person, hat keine Fehler in unseren Augen. Dabei hat jeder Fehler. Vielleicht war es ein Fehler von ihr, nicht für dich da zu sein. Vielleicht aber war dies genau richtig so, weil du nun genau so eine finden kannst, die immer für dich da ist, egal wie sehr du versuchst sie zu vergraulen. …Wenn du sie nicht bereits gefunden hast. 😉

    PS. Ich empfehle den Film „500 Days Of Summer“- auch wenn er teilweise zu kitschig ist.

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  3. Du machst mich wehmütig.
    Wie vielen geht’s wohl so wie mir, dass sie sich einmal so ehrliche Worte direkt ins Gesicht wünschen.
    Wir werden abgelehnt, und haben mitunter Jahre an dieser feigen Ablehnung zu kämpfen, die gar nicht gegen uns geht.
    Schade, dass so vielen Männern die Größe fehlt uns ins Gesicht zu sagen warum sie Angst vor einer Zukunft mit uns haben.

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